In den USA verbieten Bundesgesetze die Droge im gesamten Land, doch viele Staaten und Städte experimentieren mit eigenen Regelungen. Wird Cannabis bald landesweit legalisiert?
Lee Hopcraft würde gern mal verhaftet werden. Doch so einfach machen es ihm die Gesetzeshüter nicht. „Bei unserer letzten Demo hier vor dem Weißen Haus haben wir mehr als 100 Joints geraucht und eine 15 Meter lange aufblasbare Tüte dabeigehabt“, sagt der 28-jährige Aktivist der Lobbyorganisation DC Marijuana Justice und seufzt. „Vor Gericht könnten wir die Anti-Drogen-Gesetze nämlich angreifen. Es gab aber bloß zwei Bußgelder und keine einzige Festnahme.“
Nun veranstaltet er einen „Seed Share“ in Washington: Hunderte Menschen aller Hautfarben drängen sich in einer langen Schlange vor dem Amtssitz des US-Präsidenten, zeigen zur Alterskontrolle ihren Ausweis und lassen sich von Aktivisten mit Samen und Pflanzenteilen beschenken. Beim Vorrücken halten die Wartenden großflächige Banner in den Händen: „Obama, deklassifiziere Cannabis jetzt!“ steht darauf und ein Zitat aus einem Befund der New York Times: „Die Regierung sollte den Bann gegen Marihuana aufheben.“
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In 20 Staaten nur noch eine Ordnungswidrigkeit
Den geltenden Gesetzen zufolge ist Cannabis in den gesamten USA nach wie vor verboten. Die Wirklichkeit ist aber weitaus komplizierter: Einzelne Bundesstaaten und Städte experimentieren in ihrem Hoheitsgebiet mit eigenen Regelungen. Die Regierung unter US-Präsident Barack Obama lässt sie weitgehend gewähren, solange sie klare Rahmenbedingungen schaffen.
Seit Pennsylvania im April hinzukam, sind bestimmte Formen des medizinischen Gebrauchs in insgesamt 24 Bundesstaaten und der Hauptstadt legal. In Colorado, Washington, Oregon und Alaska ist der Erwerb auch zum privaten Genuss erlaubt, ebenso in Kommunen in Maine und Michigan. Kalifornien, Arizona, Massachusetts und Nevada könnten die Droge in diesem Jahr ebenfalls ganz freigeben. Die Hauptstadt und weitere 20 Staaten stufen den Konsum zumindest nicht mehr als Verbrechen, sondern lediglich als Ordnungswidrigkeit ein.
Die Gründe für die Liberalisierungswelle haben nur zum Teil mit den Eigenschaften der Substanz zu tun. Der Bürgerrechtsorganisation ACLU zufolge werden Schwarze bis zu achtmal häufiger wegen Cannabisbesitzes festgenommen als Weiße, obwohl der Konsum gleich verteilt ist. Sie werden für ihre Vergehen auch härter bestraft, oft mit verheerenden Folgen für die Familien. Die Empörung über diesen systematischen Rassismus war der Hauptgrund dafür, dass 2014 mehr als 70 Prozent der Hauptstadtwähler entschieden, Cannabis aus der Illegalität zu holen. Dieses Frühjahr bekannte zudem ein früherer Chefberater des republikanischen Präsidenten Richard Nixon, dessen Aufruf zum Anti-Drogen-Krieg sei von Anfang an ein Vorwand gewesen, um Hippies und Schwarze zu bekämpfen.
Legalisierung bietet große wirtschaftliche Möglichkeiten
Die Staaten Colorado und Washington waren bereits 2012 mit der Freigabe vorgeprescht. Gleichzeitig wurden streng regulierte Märkte etabliert, die die Verbindungen zur kriminellen Szene kappen und Steuergeld in die öffentlichen Kassen spülen sollten. Obamas Justizministerium gab grünes [lexicon]Licht[/lexicon] und erklärte, dass es Vergehen gegen die Bundesgesetze künftig nur noch in bestimmten Fällen zu ahnden gedenke. Darunter fallen die Weitergabe an Minderjährige, eine Beteiligung des Organisierten Verbrechens und Fälle, in denen Marihuana die Grenze zwischen Staaten mit unterschiedlichem Legalitätsstatus überschreitet.
Letzteres ist seither das Hauptproblem für eine Industrie, die versucht, sich für ein gigantisches Geschäft zu positionieren. 2015 wurden in den USA bereits 5,4 Milliarden Dollar mit legalen Cannabis-Produkten umgesetzt. Tatsächlich wird allein der Wert der Ernte der Marihuana-Pflanzer im Norden Kaliforniens auf elf bis 17 Milliarden Dollar geschätzt. Cannabis ist heute schon der einträglichste Sektor in der Agrarwirtschaft des Golden State. Wer es schafft, sich im Hanfsektor landesweit als Marke zu etablieren, kann mit Umsatzchancen rechnen, gegen die selbst große Lebensmittelkonzerne verblassen. Dem Informationsdienst Bloomberg zufolge könnte der potenzielle jährliche Bedarf in den USA bis zu 45 Milliarden Dollar einbringen.
Washington versucht wegzuschauen
Nirgends treibt das Thema bislang aber so absurde Blüten wie in der Hauptstadt. Der konservativ dominierte Kongress rebellierte gegen die Bürgerentscheidung von 2014 und nutzte seine Finanzhoheit, um sie zu sabotieren – der Stadtverwaltung wurde schlicht untersagt, für die Legalisierung irgendwelche Mittel aufzuwenden. Da man im Rathaus von Washington auch seinen Stolz hat, herrscht nun in Teilen eine Cannabis-Anarchie: Anbau, Besitz und Konsum kleiner Mengen sind auf Privatgelände erlaubt, der Verkauf allerdings nicht. Denn die Einführung eines regulierten Marktes hätte Arbeitsstunden und Geld gekostet. Das Geschäft bringt nun weder Steuern ein noch wurde es aus der Kriminalität geholt. Obendrein bemühen sich die städtischen Vollstreckungsbeamten um ressourcenschonendes Wegschauen.
Die Resultate haben durchaus Unterhaltungswert. Der Stadtrat streitet derzeit über den Umgang mit vorgeblich privaten Clubs, deren hohe Eintrittsgebühren dem Erwerb von Drogen dienen. Sie betreiben einen Lieferservice, der für 55 Dollar ein Fläschchen Limonade nach Hause bringt, zu dem der Kunde Cannabis „geschenkt“ bekommt.
Legalisierung: Hoffen auf Obama
Der Eigenanbau in überschaubarem Rahmen liegt dagegen nicht in der Grauzone. Zurück vorm Weißen Haus, reicht der 47-jährige preisgekrönte Züchter Samson Paisley der wartenden Elishewa Shalom ein paar handförmig gefächerte Blätter im Plastikbecher. „Hier. Tu das zu Hause mit Wasser in den Kühlschrank und komm auf meine Facebook-Seite. Dort erkläre ich dir, was du tun musst.“ Die 30-Jährige produziert Papier aus Hanfblättern, ist aber vor allem aus politischen Gründen gekommen: „Ich bin hier, um meine Freiheit als Bürgerin auszuüben, und ich denke, es ist mein Geburtsrecht, diese faszinierende Pflanze zu nutzen.“
Am Mikrofon wechseln die Aktivisten sich bei der Kundgebung ab. „Seit Obama im Weißen Haus ist, wurden fünf Millionen Menschen wegen Cannabis inhaftiert“, erklärt einer. Dabei habe der Präsident früher selber geraucht. Die Cannabis-Fans hoffen, dass Obama notfalls mit einer Präsidentenverfügung handelt, wenn der Kongress die Gesetze nicht ändert.
Drakonische Strafen in einigen Staaten
Die Liberalisierungswelle ist nämlich keineswegs überall im Land spürbar. Der Oberste Gerichtshof berät aktuell einen Fall, in dem ein behinderter Veteran in Alabama zu lebenslanger Haft ohne Chance auf Entlassung verurteilt worden war. Der 75-Jährige hatte drei Dutzend Marihuana-Pflanzen für den eigenen medizinischen Gebrauch angebaut. Der Greis war vor Jahrzehnten schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Für diesen Fall ließen Alabamas Gesetze dem Richter keinen Spielraum – eine Tatsache, die er beim Urteilsspruch ausdrücklich bedauerte. In Louisiana, Mississippi und South Dakota gibt es ähnlich drakonische Vorschriften.
Auch in den Gesetzbüchern der Bundesbehörden hat der Anti-Drogen-Krieg seit den 70er Jahren schwer nachvollziehbare Spuren hinterlassen. „Ich kenne viele Menschen, die Krebs haben, in die Abhängigkeit von Schmerzmitteln getrieben wurden und irgendwann beim Heroin gelandet sind“, sagt Aktivist Lee Hopcraft. „Dass eine Substanz, zu der es keine bestätigten Todesfälle gibt, auf Stufe eins geführt wird, ist grotesk.“
Zusammen mit Heroin und LSD ist Cannabis nämlich derzeit als „Schedule 1“-Droge eingestuft. Das bedeutet, dass es großes Potenzial für Missbrauch und keinerlei medizinischen Nutzen berge. Eine Einschätzung, die nicht nur aus ärztlicher Sicht veraltet erscheint. Geradezu bizarr wird es, wenn man bedenkt, dass Kokain nur eine „Schedule 2“-Droge ist – ebenfalls gefährlich, aber mit medizinischem Potenzial. Das gilt auch für Speed und Crystal Meth.
Neubewertung Ende Juni
Für die mangelhafte Forschungslage ist die Einstufung selbst verantwortlich. Sie hat Studien zum medizinischen Potenzial von Cannabis bislang weitgehend blockiert. Die zuständige Drug Enforcement Administration hat vor kurzem allerdings einer Untersuchung der Auswirkungen auf Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen zugestimmt. Außerdem kündigte sie an, dass es bis zum 30. Juni möglicherweise eine Empfehlung zur Neubewertung der Droge geben wird. Und auch die Bemühungen von Lee Hopcraft und seinen Gesinnungsgenossen waren wohl nicht umsonst: Das Weiße Haus hat die Aktivisten der DC Marijuana Justice Initiative zum Gespräch eingeladen.
Quelle: USA:
Cannabis für alle - wie Aktivisten für die Legalisierung kämpfen - Digital - Augsburger Allgemeine