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es ist in den letzten Wochen ein Bericht in der renommierten Zeitung " Die Zeit" erschienen, der für Furore sorgte und den Ihr gelesen haben solltet.
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DIE ZEIT Nº 42/2014
9. Oktober 2014 08:00 Uhr
Joints vom Doktor
[lexicon]Cannabis[/lexicon] als Arznei bleibt verboten. Dabei gibt es gute Gründe für eine Freigabe
VON GUNTHER MÜLLER
Eigentlich ist Norbert Kaltbrenner ein Vorbild für die Gesellschaft, ein Mann, der sich vom Schicksal nie unterkriegen ließ. Als Teenager war der heute 39-Jährige in einen Autounfall verwickelt, seither ist er von der Hüfte abwärts gelähmt. Der Niederösterreicher begann zu trainieren, wurde Leistungssportler und nahm als Renn-Rollstuhlfahrer bei den Paralympischen Spielen teil.
Kaltbrenner heißt nicht so. Er möchte anonym bleiben, denn im Keller seines Einfamilienhauses in St. Pölten betreibt er eine kleine Marihuana-Plantage. Seit dem Unfall leidet er unter spastischen Krämpfen in den Beinen und unerträglichen Rückenschmerzen. Beides bekämpft Kaltbrenner mit [lexicon]Cannabis[/lexicon]. "Ich habe schon etliche Medikamente ausprobiert, wirklich helfen kann mir nur Kiffen", sagt er. Und: "Ich würde nicht einmal meinen engsten Freunden etwas davon schenken."
Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Sollte die Polizei einen Blick in den Keller werfen, würde ihm im schlimmsten Fall eine Gefängnisstrafe drohen. In Österreich sind nicht nur Besitz, Anbau und Handel von [lexicon]Cannabis[/lexicon] verboten. Auch Schmerzpatienten, die [lexicon]Cannabis[/lexicon] zu therapeutischen Zwecken konsumieren wollen, ist der Zugang zum illegalen Kraut verwehrt.
Ärzte in Tschechien dürfen [lexicon]Cannabis[/lexicon] hingegen ebenso verschreiben wie deren Kollegen in Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien. Im US-Staat Coloradosei deshalb sogar ein regelrechter "Cannabis-Goldrausch" (Spiegel) ausgebrochen. Kurz sah es auch in Österreich nach einer Reform aus. Im vergangenen Sommer stimmten die Tiroler Sozialdemokraten für eine komplette Legalisierung. Der damalige Gesundheitsminister Alois Stöger stellte eine parlamentarische Arbeitsgruppe in Aussicht.
Mittlerweile leitet Sabine Oberhauser das Ressort. Die Arbeitsgruppe gibt es bis heute nicht, und Reformen seien auch keine geplant. "Aus gesundheitspolitischen Gründen können wir die Droge selbst für therapeutische Zwecke nicht legalisieren", heißt es aus dem Ministerium.
Tatsächlich aber wollen immer mehr Patienten [lexicon]Cannabis[/lexicon] für medizinische Zwecke einsetzen. Niemand weiß das besser als Kurt Blaas, Allgemeinmediziner, Suchttherapeut und Obmann der Arbeitsgemeinschaft [lexicon]Cannabis[/lexicon] als Medizin. Als Blaas Ende August von einer zweiwöchigen Urlaubsreise zurückkam, konnte er die Anfragen von Schmerzpatienten, die sich in seiner Abwesenheit nach Cannabis-Medizin erkundigt hatten, kaum aufarbeiten.
Neben Blaas gibt es nur wenige Ärzte in Österreich, die Erfahrungen mit der Arznei haben. "Am wichtigsten wäre es, die österreichischen Ärzte über die erfolgreichen Therapiemöglichkeiten zu informieren. Da gibt es noch große Ängste und Hemmungen", findet Blaas. "Auch die Patienten erkennen allmählich, dass [lexicon]Cannabis[/lexicon] keine böse Droge, sondern eine echte Heilpflanze ist. Es kommen ständig neue Patienten mit HIV, Krebskranke, Menschen, die unter Parkinson, dem Tourette-Syndrom oder unter ständiger Migräne leiden, zu mir."
Eine staatliche Agentur verkauft [lexicon]Cannabis[/lexicon] aus Wien nach Deutschland
Blaas darf diesen Patienten [lexicon]Cannabis[/lexicon] weder verschreiben noch eine illegale Anschaffung empfehlen. Stattdessen verschreibt er ihnen zwei Medikamente, welche die psychoaktive Substanz Tetrahydrocannabinol, kurz [lexicon]THC[/lexicon], enthalten und in Österreich dennoch legal sind: Sativex und Dronabinol.
Seite 2/3: "Ich würde sofort [lexicon]Cannabis[/lexicon] bei mir zu Hause anbauen"
Sie werden in einem chemischen Verfahren hergestellt und als Sprays, Kapseln oder Tropfen vertrieben. "Dronabinol wirkt gegen Übelkeit und Erbrechen und steigert den Appetit, darüber hinaus ist es leicht stimmungsaufhellend", sagt Birgit Kraft, Oberärztin am Wiener Allgemeinen Krankenhaus.
Dronabinol wird von der Bionorica Ethics GmbH hergestellt. Das deutsche Unternehmen bezieht die Pflanzen aus Österreich. Wie das möglich ist? Die staatliche Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit produziert in Wien streng abgeschirmt über 140 Kilogramm hochwertiges [lexicon]Cannabis[/lexicon] im Jahr. Die Agentur ist als einziges Unternehmen vom Suchtmittelgesetz befreit.
Marion Kienast holt ein weißes, trichterförmiges Gerät aus ihrer Tasche, einen Vaporizer. Damit inhaliert die 52-Jährige fünfmal täglich Dronabinol. Vor vier Jahren wurde bei Kienast multiple Sklerose diagnostiziert. Jahrelang litt sie unter Beinkrämpfen und Schlafstörungen, mit dem Medikament habe sich ihre Situation deutlich verbessert. "Für mich übernimmt die Krankenkasse die Kosten dafür, aber ich verstehe den Staat nicht: Kiffen ist nicht nur viel billiger, es wirkt bei mir obendrein noch besser."
Wie effektiv ist also [lexicon]Cannabis[/lexicon] in der Medizin? Umfangreiche Vergleichsstudien gibt es nur vereinzelt. "Zunächst wurde [lexicon]Cannabis[/lexicon] vor allem bei Tumor- und HIV-Patienten eingesetzt, um Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust zu behandeln", sagt Hans Georg Kress, Präsident des Dachverbandes europäischer Schmerzgesellschaften. "Inzwischen wissen wir, dass der Hauptwirkstoff [lexicon]THC[/lexicon] auch bei multipler Sklerose, dem Querschnittssyndrom oder anderen spastischen Schmerzen sowie bei verschiedenen chronisch-entzündlichen Erkrankungen und Darmerkrankungen hilft."
Nicht nur die Politik zögert bei Reformen. Auch die österreichische Ärztekammer scheint mit dem Status quo zufrieden. "Mit Sativex und Dronabinol sind unsere Patienten bestens versorgt, eine Legalisierung ist nicht notwendig", sagt eine Sprecherin. Das sehen nicht wenige Schmerzpatienten anders.
In den 1990er Jahren bekam hierzulande erstmals ein Patient [lexicon]Cannabis[/lexicon] zu therapeutischen Zwecken bewilligt. Ein oberösterreichisches Gericht gestattete einem HIV-Patienten, die Pflanzen straffrei anzubauen. Kurt Blaas hält solche Ausnahmen für sinnvoll. "In ganz speziellen Fällen könnte ich mir eine Erlaubnis für einen Heimanbau vorstellen."
Der Salzburger Wilhelm Wallner wollte nicht auf eine Sondererlaubnis warten. Der ehemalige Fernfahrer erlitt vor einigen Jahren einen Arbeitsunfall. Nach einer Fehldiagnose musste ihm eine Kniescheibe implantiert werden. Die Schmerzen und Depressionen bekämpfte Wallner mit Morphium. Das linderte die Qualen. Die Nebenwirkungen waren aber massiv. "Ich war ständig fertig, meine Körperwerte rasten in den Keller, vor allem die Leber wurde stark belastet", sagt Wallner.
Vor ein paar Jahren beschloss er, [lexicon]Cannabis[/lexicon] in den eigenen vier Wänden anzubauen. Doch die Polizei entdeckte seine Plantage. Nach einer Verurteilung gründete Wallner den [lexicon]Cannabis[/lexicon] Social Club (CSC), einen Verein, der sich für die komplette Legalisierung von [lexicon]Marihuana[/lexicon] einsetzt. In erster Linie geht es dem CSC aber um Entkriminalisierung: "Unter ärztlicher Kontrolle sollen Patienten [lexicon]Cannabis[/lexicon] zum Selbstkostenpreis erhalten", fordert Wallner. Das wünscht sich auch die Multiple-Sklerose-Patientin Marion Kienast. "Ich würde sofort [lexicon]Cannabis[/lexicon] bei mir zu Hause anbauen", sagt sie. Allerdings sei das in einer 70 Quadratmeter großen Wohnung, in der eine vierköpfige Familie lebt, kaum möglich.
Die MS-Patientin sieht sich vom Staat in die Illegalität getrieben. "Ich kenne keine jungen Menschen, die mir Gras besorgen können, und will auch niemanden danach fragen. Und zu den stadtbekannten Umschlagplätzen will ich einfach nicht gehen", sagt Kienast. "Da fühle ich mich wie eine echte Verbrecherin."
Seite 3/3: "Sollen sie mich doch verhaften – das wäre die beste Werbung"
Ein Problem, für das Markus Winter vom CSC eine Lösung anbietet. Der Landschaftsgärtner macht kein Geheimnis aus seiner Mission: "Ich versorge gerne Schmerzpatienten mit qualitativ hochwertigem [lexicon]Cannabis[/lexicon], weil ich weiß, dass ich ihnen damit helfen kann." Bis zu 100 Anfragen bekommt der 38-Jährige täglich aus Österreich, der Schweiz und Deutschland.
Manche wollten Informationen zur medizinischen Wirkung, andere gleich [lexicon]Marihuana[/lexicon] kaufen. "Ich verkaufe den Patienten nichts, denn dann wäre ich ein Dealer", sagt Winter. Seine illegale Cannabis-Plantage hat er in der niederösterreichischen Pampa versteckt. Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen hat er keine. "Mir passiert nichts, ich will sogar mit der Polizei zusammenarbeiten, um die Dealer von den Straßen zu bekommen."
Und wenn doch die Polizei vor seiner Haustüre steht? "Sollen sie mich doch verhaften – das wäre die beste Werbung für den CSC und der Durchbruch für unsere Kampagne", sagt er. Für ihn gibt es zwei Zukunftsszenarien: Wenn die Regierung [lexicon]Marihuana[/lexicon] für therapeutische Zwecke legalisiert, dann will Winter profitieren und einer der Hauptlieferanten für Apotheken werden.
Sollte es zu keiner Reform kommen, dann wollen Winter und einige andere nächstes Jahr mit ihrer Hanfpartei bei den Wiener Gemeinderatswahlen antreten. Auf die Unterstützung des Rollstuhlfahrers Norbert Kaltbrenner müssten sie verzichten. Der fürchtet, "dass ich viele Leute schockieren würde, wenn ich öffentlich über regelmäßigen Cannabis-Konsum spreche".
Quelle:
Cannabis: Joints vom Doktor | ZEIT ONLINE
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