Zitat von SZAlles anzeigenRausch ist Privatsache
Ein Verhalten zu entkriminalisieren heißt nicht, es zu befürworten. Cannabis muss freigegeben werden. Ein Plädoyer.Ein Albtraum der Drogen- und Gesundheitsbeauftragten scheint wahrgeworden zu sein: Sie sind mitten unter uns, ohne dass wir sie an ihrer Hautfarbe, verdreckten Füßen oder Rastalocken erkennen könnten. Zwischen zwei und vier Millionen Deutsche kiffen regelmäßig, der gelegentliche Joint ist in ihrem sozialen Umfeld kaum auffälliger als andernorts ein Feierabendbier, und fast niemand von ihnen hängt dazu auf Bahnhofsvorplätzen herum. Die meisten von ihnen kommen, wenn man den Ergebnissen der Sozialforschung glauben darf, sogar ganz gut klar mit ihrem Leben, sie funktionieren, auch wenn sie vom gelegentlich Rausch nicht ablassen mögen. Sie gebrauchen Cannabis, sie missbrauchen es nicht.
Natürlich ist Cannabis keine ungefährliche Droge. Es gibt sie, die lethargischen und die depressiven, die verplanten und die sozialphobischen Kiffer, deren Konsum schädliche Ausmaße angenommen hat. Nicht wegzudiskutieren sind insbesondere die Gefahren für Jugendliche, deren neuronale Strukturen besonders anfällig sind für hanfverklebte Synapsen. Niemand, der bei Sinnen ist, empfiehlt Cannabis deshalb als Bestandteil des Alltags, nicht für Erwachsene und erst recht nicht für Jugendliche.
Entkrimininalisieren ist nicht gleich befürworten
Aber ein Verhalten zu entkriminalisieren heißt nicht, es zu befürworten. Das verkennen viele Kritiker einer liberaleren Drogenpolitik. Ihre Perspektive beschränkt sich auf die Unterscheidung zwischen sozial erwünschtem und sozial unerwünschtem Verhalten. Was sie für sozial unerwünscht halten, das sollte am besten auch strafbewehrt sein. Man muss an dieser Stelle nicht darüber streiten, wann der Konsum von Rauschmitteln sozial unerwünscht ist. Dass es Formen des Rausches gibt, die mit einem gelungenen Leben vereinbar sind, bestreitet ernsthaft niemand. Gerade diejenigen, die am heftigsten gegen eine Lockerung der betäubungsmittelrechtlichen Strafvorschriften polemisieren, scheinen selbst höchst selten einem zünftigen Besäufnis abgeneigt zu sein.
Die Vermutung liegt nahe, dass die unterschiedliche Behandlung von Cannabis und Alkohol eher der Ausdruck einer irrealen Angst vor einer Substanz ist, die im europäischen Kulturkreis erst sehr spät als Rauschmittel Verbreitung fand. Während der Besitz von Alkohol selbst dann noch sozial toleriert ist, wenn er zum täglichen Konsum Suchtkranker dient, ist der Besitz von Cannabis sogar dann strafbar, wenn er ausschließlich zum gelegentlichen Konsum eines freiverantwortlich handelnden Erwachsenen bestimmt ist.
Eines der Lieblingsargumente der Cannabis-Verächter lautet: Nur weil wir Alkohol nicht kriminalisieren, müssen wir nicht Cannabis entkriminalisieren, schließlich haben wir schon genug Probleme mit Alkohol - warum sich noch mehr Probleme ins Haus holen? An diesem Argument ist praktisch alles falsch. Wer den Besitz von Cannabis entkriminalisieren und den Handel unter staatliche Kontrolle stellen will, möchte ja gerade soziale Probleme lösen, die eine verfehlte Drogenpolitik über Jahrzehnte hinweg produziert hat. Die hinter dem Argument stehende These, dass die mit der jetzigen Gesetzeslage verbundene Kriminalisierung von Millionen Deutscher irgendwelche Probleme auch nur im Ansatz lösen könnte, kann im nüchternen Zustand niemand stehenlassen wollen.
Schon heute sind die Strafvorschriften des Betäubungsmittelrechts höchst ambivalent. Der Konsum verbotener Substanzen ist nicht strafbar, weil er Dritte nicht schädigt. Trotzdem ist jeder Umgang mit diesen Substanzen verboten, auch ihr bloßer Besitz. 1994 rang sich das Bundesverfassungsgericht gegen erheblichen Widerstand aus der Strafrechtswissenschaft noch gerade dazu durch, das strenge deutsche Betäubungsmittelgesetz im Grundsatz unangetastet zu lassen.[...]
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Quelle:
Süddeutsche Zeitung