Ahoi,
Artikel von heute:
In den USA erlauben zwei weitere Bundesstaaten den Besitz von
[lexicon]Marihuana[/lexicon]. Linke und Grüne wollen das Thema auch in Deutschland wieder
auf die Tagesordnung bringen. Der Strafrechtsprofessor und Psychologe
Lorenz Böllinger liefert im Interview mit n-tv.de die Argumente.
n-tv.de: Sie kritisieren, wie deutsche Behörden mit Drogenkonsumenten und -händlern umgehen. Was tun die Behörden bislang?
Lorenz
Böllinger: Die Polizei muss bei jedem Verdacht ermitteln. Zusätzlich
versucht sie offensiv, zum Beispiel durch V-Leute, Menschen zu finden,
die gegen das Gesetz verstoßen. Der Handel mit Rauschgift ist ja ein
opferloses Delikt. Deswegen gibt es keine Geschädigten, die Anzeige
erstatten. Die Polizei muss also besonders aktiv werden. Wie intensiv
V-Leute und Undercover-Agents eingesetzt werden, entscheiden die
Generalstaatsanwälte.
Welche Methoden fänden Sie besser?
Ich
meine, dass das ganze Unsinn ist – und diese Meinung teilt etwa jeder
zweite deutsche Strafrechtsprofessor. Die Strafverfolgung von
Drogenhändlern und -konsumenten zielt darauf, das "Problem" – in
Anführungsstrichen – zu eliminieren. Aber die Regierung hat sich nie
genau mit der Frage beschäftigt, in welchem Umfang dieses "Problem"
eigentlich besteht. Dass dieser Schwarzmarkt so profitabel ist, kommt ja
erst durch die Kriminalisierung.
Wo sollte man Ihrer Meinung nach Drogen kaufen können? Im Supermarkt?
Unsere Initiative
zielt darauf, dass überhaupt erst einmal die unbeabsichtigten
Nebenwirkungen dieses Gesetzes untersucht werden. Danach muss für jede
Droge sorgfältig und auf wissenschaftlicher Grundlage ein Konzept
entwickelt werden, wie man den Konsum am besten kontrollieren kann. Das
mildeste Konzept würde es wohl für [lexicon]Cannabis[/lexicon] geben. Uruguay und die US-Bundestaaten Colorado und Washington haben da gute Modelle gefunden.
Damit würde erstmals auch Jugendschutz möglich. Bislang haben die
Jugendlichen keine Probleme, an Drogen zu kommen. Auch für die
Heroinabgabe gibt es schon gute Modelle, die ausgezeichnet funktionieren
und Schäden enorm verringern. Viele Tausende Drogentote hätte es nicht
geben müssen. Für Kokain müsste man wieder ein anderes Modell
entwickeln, ebenso für Crystal Meth, Amphetamine und so weiter.
Wie würde das genau aussehen, zum Beispiel bei [lexicon]Marihuana[/lexicon] und Kokain?
Erstens
müssten Herstellung und Vertrieb staatlich kontrolliert werden. Der
deutsche Staat hat diese Kontrolle vollständig aufgegeben. Oder besser:
Er hat sie nie erlangt. Er könnte genau definieren, welche
Wirkstoffkonzentrationen erlaubt sind, Verunreinigungen verhindern und
wie bei Alkohol auch Jugendschutzregeln einführen. Bei Kokain ist es wie
bei vielen anderen Drogen, dass maximal 5 bis 8 Prozent der Konsumenten
überhaupt langfristig Probleme damit haben. Der überwiegende Teil wird
nicht abhängig. Das bedeutet, dass man vor allem gesundheitsrechtlich
und präventiv vorgehen muss. Bei Tabak haben wir ein gutes Beispiel, wie
Kampagnen funktionieren können: Die Menschen rauchen heute weniger und
kontrollierter. Das sind Folgen einer intensiven Aufklärung. Und wenn
jemand seinen Konsum nicht kontrollieren kann, braucht er Hilfe.
Fänden Sie es selbst nicht komisch, wenn man am Kiosk Kokain kaufen könnte?
Das Wort "Kiosk" hat eine negative Konnotation. Es könnte spezielle
Abgabestellen geben. Das ist zum Beispiel in Colorado für [lexicon]Cannabis[/lexicon] so
und diese Abgabestellen könnte es auch für Kokain geben. Ich finde es zu
viel verlangt, jetzt schon detaillierte Modelle vorschlagen zu müssen.
Es gibt bessere Wege! Kokain ist jetzt schon erhältlich, wer es haben
möchte, bekommt es auch. Das viele Geld, das Konsumenten dafür bezahlen,
heizt den Schwarzmarkt an. Dahinter steht eine weltweite
Schattenwirtschaft in der riesige Geldmengen umgesetzt und gewaschen
werden.
In einer Stellungnahme für den Bundestag schreiben Sie, der
Staat dürfe "die Bürger durch die Drogenpolitik nicht schädigen". Was
meinen Sie damit?
Erstens werden viele Menschen kriminalisiert: 100.000 junge Leute
werden jährlich wegen Cannabis-Besitzes und -Handels verurteilt. Das
sind 100.000 Lebensgeschichten, die beeinträchtigt werden. Die Leute
kriegen keine Ausbildungsplätze mehr, keinen Führerschein – sie sind
echt benachteiligt. Wer in den Knast kommt, wird dort nachträglich
kriminell sozialisiert. Da sage ich: Der Bürger wird beschädigt. Und
zweitens führen die hohen Preise auf dem Schwarzmarkt zu
Beschaffungskriminalität und Folgekriminalität. Dadurch werden auch ganz
unbeteiligte Bürger geschädigt. Und drittens werfen wir jedes Jahr 500
Millionen Euro für eine sinnlose Prohibition aus dem Fenster. Die könnte
man sinnvoller für die Aufklärung verwenden. Für Strafverfolgung wird
bislang neun Mal so viel Geld ausgegeben wie für Aufklärung und
Prävention.
Sie haben fast die Hälfte der deutschen
Strafrechtsprofessoren hinter sich. Die Bundesregierung wehrt sich, und
auch 65 Prozent der Deutschen wollen keine Liberalisierung. Wie erklären
Sie sich den Unterschied?
Die öffentliche Wahrnehmung zu
Drogen ist seit 40 Jahren verzerrt. Sie ist von den Medien
weitergetragen und von der Politik wie ein Glaubenskrieg vertreten
worden. Das hat natürlich Wirkung. Mit der Dramatisierung des Themas
kann man Quote machen und Stimmen gewinnen
.
Wie gehen Sie selber mit der aktuellen Rechtslage um? Brechen Sie das Gesetz?
(lacht)
Das ist eine persönliche Frage, auf die ich nicht eingehen möchte. Wenn
ich nein sage, glaubt man mir nicht. Wenn ich ja sage, glaubt man, ich
würde das alles nur aus persönlichem Interesse machen.
Quelle: N-TV vom 05.11.2014
Greets City
Mit Lorenz Böllinger sprach Christoph Herwartz